Grandios, rau und so verletzlich

Durch das Rolwaling-Tal in die Gletscherlandschaft Nepals

Der Aufstieg zu den Gletscherseen Tsho Rolpa und Dudh Kunda ist eine anspruchsvolle und aufregende Trekkingroute in Nepal. Sie führt durch traditionelle Siedlungen im Rolwaling-Tal und bietet atemberaubende Ausblicke auf schneebedeckte Himalaya-Gipfel. Entlang der Route gibt es Gästehäuser, die eine einfache Unterkunft und lokale Küche bieten. Die Tour lädt auch ein zu Begegnungen mit dem tibetisch geprägten Buddhismus.

Vajrapani wehrt böse Geister davor ab, in das Rolwaling-Tal zu gelangen. Er gilt als Verkörperung der Tatkraft aller Buddhas und verfügt über große Weisheit, welche durch das dritte Auge dargestellt ist.

Die Hirse-Ernte ist im Gang. Frauen pflücken die rötlich schimmernden Rispen, tragen sie in Tüchern und Körben zu ihren Häusern, trocknen sie auf Dächern und freien Flächen. Die Unterkunft in Chetchet, dem letzten mit dem Bus erreichbaren Dorf, war denkbar einfach: Zementboden, Kunststoff-Futon auf Holzbrettern, Plastikfolie an der Decke. An der Wasserpumpe im Freien hängen die Zahnbürsten der Einwohner:innen.

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Hirseanbau auf Terrassen in Simigaon (2.000 Meter über dem Meeresspiegel).

Von hier steigen wir Steinstufe um Steinstufe nach Simigaon auf. Wir, das sind die Bergführerin Jangmu Sherpa, die Fotografin Regina Koritkowski und ich. Blumen schmücken die traditionell aus Querbalken und Felsbrocken erdbebenrobust gebauten Häuser. Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln pflanzen die Menschen auf Terrassenfeldern an. Weizen säen sie im Herbst, erzählt unsere Wirtin, eine lebensfrohe Frau mit bunt gewebtem Schurz und großer silberner Schnalle. Zum Abendessen kocht sie Polenta aus fein gemahlener Hirse, eine würzige Tomatensauce und dünstet Spinat in der Pfanne an.

Aufstieg nach Dongang.

Durch immergrünen Mischwald geht es weiter nach oben. Eine mystisch anmutende Waldwelt folgt, alles ist moosbewachsen: Baumstämme, Äste, Zweige, Felsen, Boden, in hunderten Grüntönen. Vereinzelt leuchten darin rote und gelbe Laubmoose. Auf zweitausendachthundert Metern Höhe übernachten wir im Zelt. Das Gästehaus mit über einhundert Betten, das hier in Dongang gestanden hatte, rissen Wassermassen Anfang August weg, während des Monsuns. Eine ältere, alleinstehende Frau, die dort schlief, starb. Sie hatte ihren Lebensunterhalt damit verdient, außerhalb der Wandersaison auf das Anwesen aufzupassen.

Gletscherschmelze in einem der Seitentäler des Rolwaling hatte einen Erdrutsch ausgelöst. Dazu kamen ungewöhnlich große Wassermengen aus den anderen Gletschern und starke Monsunregenfälle. Der angeschwollene Fluss riss Uferböschungen mit sich. Geröll- und Wassermassen stürzten ins Tal. Dort, wo das Gästehaus stand, trotzten einige hohe Fichten der Sturzflut: Bis auf drei Metern Höhe ist ihre Rinde jetzt abgeschält und das blanke, helle Holz ist zu sehen.

Fichten trotzten der August-Sturzflut in Dongang (2.791 Meter ü. NN). Geröll- und Wassermassen schälten ihre Rinde ab.

Vom Zeltplatz aus klettern wir durch das Flussbett. Dann führt der Pfad in den Wald. Den ursprünglichen Weg hat die Sturzflut auf etwa drei Kilometern Länge ins Tal gerissen. Einen neuen Trail haben die Menschen aus den weiter oben liegenden Dörfern innerhalb eines Monats durch den Forst geschlagen, Steine gesetzt, an den vielen steilen Anstiegen Holzpflöcke eingeschlagen, dicke Äste oder Holzbalken darüber gelegt. Lediglich das Material stellte die Gemeinde. Zu teuer ist den Menschen die Versorgung mit Lebensmitteln durch Hubschrauber. Und ohne Weg bricht eine der wichtigsten Einkommensquellen weg: Wanderer aus Nepal und dem Ausland, die übernachten und versorgt werden wollen.

Yak

Der nächste Ort besteht aus zwei Gehöften. Im kleineren kehren wir ein. Aruti Rai, eine Frau mittleren Alters, kocht Tee und Dal-Bhat: Reis, Gemüsecurry und Linsen. Nach ihrer Scheidung zog sie vom Nachbardistrikt hierher, pachtete das Gasthaus samt kleinem Feld, nahm einen Kredit auf für die karge Ausstattung: Plastikstühle, Küchenutensilien, Bettwäsche. Von der staatlichen Hilfe nach der Sturzflut habe sie nichts erhalten, erzählt sie. Vor dem Monsun hatte sie Lebensmittel für die Herbstwandersaison beim Händler im Tal bestellt und bezahlt. Aufgrund der Flut kamen sie nicht bei ihr an. Wer am Rand der Gesellschaft lebt, kann seine Rechte nicht durchsetzen. Da sie ihre Schulden abstottert, hat sie ihre Kinder in den letzten drei Jahren nicht gesehen. Auch im Winter, wenn die anderen Familien nach Kathmandu gehen, bleibt sie deshalb als einzige hier oben, mit ihrer Kuh. Dieses Jahr ist es noch härter, sagt sie, denn durch die Erdrutsche kämen weniger Gäste. Als wir aufbrechen, schenkt sie uns dreien eine Guave, eine rare Kost hier oben. Ob im Himalaya, auf den Inseln des Brahmaputra-Stromes in Bangladesch oder in den Mangrovenwäldern im Golf von Bengalen, immer wieder erlebe ich diese selbstlose Gastfreundschaft von Menschen, die im sozialen Machtgefüge ganz unten stehen, von den Folgen der Klimakrise am härtesten getroffen sind und am wenigsten dazu beitragen.

Wenn Aruti Rai am Berg auf der gegenüberliegenden Flussseite Waldpilze sammelt, begegnet sie manchmal dem roten Panda. Sie ist Wirtin eines der beiden Gästehäuser in Thanding.

Ahornbäume verlieren ihre gelben Blätter. Auf schwarzrindigen Riesen wachsen rote Farne. Andere immergrüne Gewächse mischen sich dazwischen, vereinzelt Tannen und Lärchen. Wir gehen über neue, provisorische Holzbrücken, Waldbodenanstiege, Felsstufen. Im Tal rauscht der Fluss durch die hellgrauen Felsen, oft in bizarren Formen abgeschliffen. Im Süden, also zu unserer Rechten, steigt der Wald steil an. Gegenüber wechseln steile schwarze Felsanstiege mit Mischwaldhängen ab. Ein Waldstück aus niedrigerem Rhododendron, hohen Blaufichten und schlankem Bambus folgt. Ein Adlerpaar segelt über uns hinweg, von der nördlichen Fünftausender-Kette zur gegenüberliegenden.

Aufstieg nach Beding.

Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel. Wir sitzen im Gemeinschaftsraum eines Gästehauses in Beding, auf dreitausendsiebenhundert Metern Höhe. Sojiro Sunako und Masahiro Minowa, zwei japanische Gletscherforscher, erzählen von ihrem einmonatigen Aufenthalt auf dem Takargo-Gletscher mit Camps auf fünftausend, fünftausendfünfhundert und sechstausend Metern. Bis zu vierhundert Metern dick sei das Eis, berichtet Masahiro. Er misst die Gletschertiefe, sein Kollege die Gletschermassen. Damit verbringt Sojiro seit zehn Jahren vier Wochen im Herbst hier oben. Jährlich nehme das Volumen ab, erklärt er, und die Gletscherseen würden immer größer.

2050? Jeder würde nach einer Prognose fragen, wie die Situation in fünfundzwanzig Jahren sein wird, antworten sie auf die entsprechende Frage. Beide lächeln schweigend, eine asiatische Antwort.

Das letzte ganzjährig bewohnte Dorf im Rolwaling: Der Sherpa-Ort Beding (3.715 Meter ü. NN).

Das Forschungsprojekt wird von der japanischen Regierung finanziert. „Aber annähernd dreißig Prozent der Elektrizität in unserem Land wird aus Kohle gewonnen“, reflektiert Masahiro in einem anderen Gesprächsgang mit den Gästen. Und da platzt es dann doch aus ihm heraus: „Es ist bereits zu spät. Selbst wenn wir den Temperaturanstieg auf der Erde auf dem aktuellen Niveau stoppen würden, das Eis wird weiterschmelzen.“ Und er ist überzeugt: „Ende dieses Jahrhunderts wird es keine Gletscher mehr geben.“

Klosterschüler spielen Volleyball vor Mantras, die Gläubige vor Jahrhunderten in den Felsen gemeißelt haben.

Die beiden setzen morgen ihren Abstieg ins Tal fort, um nach Kathmandu und Tokio zurückzukehren, ihre Mess-Ergebnisse auszuwerten und in Fachzeitschriften zu publizieren. Vielleicht werden sie hier und da ein Interview geben. Wir steigen morgen weiter auf.

Kleine Klosteranlage oberhalb von Beding.

Mit unserer Bergführerin wollen wir zu den beiden Gletscherseen am Ende des Rolwaling-Tales, und auch an den Fuß des Yalung-Gletschers.

Dhershan Sherpa ist der letzte Schreiner in Beding. Eng beieinander liegen die Jahresringe der Blaufichte, aus der er hunderte konische Stücke schnitzt. Diese verleimt er zu einer Trommel für das buddhistische Kloster im Ort.

Yaks kommen uns in der Schneelandschaft entgegen. Ein blauer Bergfasan fliegt auf und davon. Ein Wolf heult. Auf viertausend Metern über dem Meeresspiegel weitet sich das Tal. Nadelbäume stehen vereinzelt an geschützten Stellen. Rotblättrig sind die niedrigen Büsche. Hüfthoch wächst Thuja. Bizarr erheben sich die Gipfel der Bergketten zur Linken, zur Rechten, vor uns im Osten.

An den Mani im Rolwaling-Tal stellen die Gläubigen häufig das in Stein gemeißelte Mantra des Guru Rinpoche auf: „Om Ah Hung Vajra Guru Padme Siddhi Hung“. Da es viele Bedeutungsebenen hat, ist es nicht einfach übersetzbar. Tibetische Buddhisten rezitieren das Mantra als Ausdruck von universellem Mitgefühl.

Weltweit die meisten Besteiger:innen des Mount Everest stammen aus dem Sherpa-Ort Beding. Naa ist die Sommersiedlung mit Yak-Weiden, der letzte Ort des Tales. Am Eingang von Naa liegt ein großer, schwarzer, quaderförmiger Fels, vor Jahrhunderten mit heiliger Schrift in tibetischen Zeichen behauen.

Mani-Wände, Stupas und heilige Felsen – wie dieser in Naa – werden von Buddhisten rituell im Uhrzeigersinn umkreist.

Unweit davon, unter einem Felsen, welcher der Form der Mütze eines buddhistischen Lehrmeisters ähnelt, befindet sich eine Höhle. Der Überlieferung nach hat Guru Rinpoche hier meditiert; er lebte im achten Jahrhundert n.Chr. und gilt als Begründer des Buddhismus in Tibet.

Taktshang ist eine kleine Klosteranlage aus Höhle, Haupttempel und Wohngebäuden, die sich eng an die Felswände anlehnen.

Ein Meditationsraum ist in der Höhle eingerichtet. Im Schein von Butterlämpchen empfängt uns dort der Lama Pem Chiring. Seit fünfzig Jahren lebt er hier oben. Die Bevölkerung von Naa versorgt ihn. Um Pujas zur Geburt eines Kindes zu halten oder Beerdigungsrituale, geht er ins Tal. Während des Monsuns meditiert auch ein weiser, buddhistischer Lehrmeister aus Singapur an diesem Ort.

Seit fünfzig Jahren lebt und meditiert der Lama Pem Chiring hier oberhalb von Naa (4.195 Meter ü. NN).

Das Leben im Tal ist geprägt von einer Kultur der Gewaltfreiheit. Tiere dürfen nicht gejagt und nicht geschlachtet werden. Die Mönche hätten Yaks im Schlachthaus eines Nachbartals gekauft und in Rolwaling ausgewildert, erzählt eine Einwohnerin von Naa.

Wörtlich übersetzt bedeutet Taktshang „Tigers Versteck“.

Riku Sherpa, unsere Wirtin in Beding, hat in den Erzählungen der Großeltern nie von einem Mordfall in der Geschichte des Tales gehört. Schlägereien würde es geben, wenn Männer erheblich Rakshi getrunken hätten, lokal gebrannten Reis- oder Hirseschnaps. Gewiss, wenn viele Gäste bei ihr absteigen, seien die Besitzer anderer Teehäuser neidisch und würden schlecht über sie reden. Doch die nächste Polizeistation ist vier Tage Fußmarsch entfernt. Konflikte würden sie untereinander im Dorf lösen, wenn etwa ein Yak dem Nachbarn das Gemüse aus dem Garten frisst, erklärt die lebenstüchtig wirkende Frau.

Aufstieg zum Thso Rolpa.

Von Naa aus steigt man zum Tsho Rolpa auf. Die Fläche des 135 Meter tiefen Gletschersees hat in den letzten sechzig Jahren um zweitausend Prozent zugenommen, sagen die Daten. Mit schwerem Gerät holen Techniker Felsbrocken aus dem See, um sein Fassungsvermögen für das Schmelzwasser zu erhöhen, erläutert uns ein Hüttenwirt.

Der Gletschersee Thso Rolpa (4.580 Meter ü. NN).

Zwischen südlicher Moräne und Bergzug geht der Aufstieg durch das liebliche Chukyima-Tal zum Fuß des Yalung-Gletschers. Langsam plätschernd, manchmal gurgelnd, fließt der Bach durch die Matten. Rhododendron-Büsche verströmen herb-süßlichen Duft. Edelweiß blüht. Erfahrene Kletterer können von hier aus den Tashi Lapcha Pass erklimmen, um in den Nachbardistrikt Solukhumbu zu gelangen mit seinen Achttausendern Mount Everest, Lhotse, Makalu und Cho Oyu. Ein Eisbrocken bricht vom Gletscher ab und treibt auf dem See.

Am Ostufer fallen die Eisbrocken vom Gletscher in den See.

Von Naa aus wandern wir auch zum Dudh Kunda. Links und rechts des Hügelbands, über das wir gehen, liegen Gletscher, gesäumt von langgezogenen Moränen. Vor uns, im Norden, bildet eine Bergkette die Grenze zu Tibet. Dort taucht der Gauri Sankar mit seinen zwei Siebentausender-Gipfeln auf.

Gauri Sankar ist mit 7.134 Metern der zweithöchste Gipfel des Rolwaling-Gebirges. Der Name stammt von der hinduistischen Göttin Gauri und ihrem Gemahl Shankar, was auf die heilige Verehrung hinweist, die dem Berg in Nepal entgegengebracht wird.

Türkisblau liegt der Dudh Kunda in der Schneelandschaft. Für buddhistische wie hinduistische Besucher:innen ist der See von großer Bedeutung, ein heiliges Bad darin soll Sünden wegspülen und Wünsche erfüllen. Auf quadratischem Unterbau erhebt sich ein weiß getünchter, schlichter, würfelförmiger Chörten. Er symbolisiert Buddha und seine Lehre. Eine goldene Spitze, welche für das Nirvana steht, ziert das aus Steinplatten gefertigte Dach. Bunte Gebetsfähnchen, in alle Himmelsrichtungen gespannt, wehen im Wind.

Stille umgibt uns, absolute Stille.

Drei Kilometer von der tibetischen Grenze entfernt, auf 4.700 Metern über dem Meeresspiegel, liegt der Gletschersee Dudh Kunda.

Fotos: Regina Koritkowski
Text: Peter Dietzel

Die Erstveröffentlichung der Reportage erfolgte im Explorer Magazin im März 2025.

Jangmu Sherpa studiert Journalismus und ist Bergführerin. Regina Koritkowski ist Tierärztin und Fotografin. Peter Dietzel ist Schreinermeister, Friedensarbeiter und Autor. Er war beruflich drei Jahre lang in Nepal tätig.

Reisen mit kleinerem CO2 Fußabdruck
Wer nach Nepal reist, kann seinen CO2-Fußabdruck reduzieren. Der Landweg ist zeitaufwändig. Direktflüge aus dem deutschsprachigen Raum werden derzeit nicht angeboten. Doch verschiedene Fluglinien fliegen nonstop nach Delhi. Dies verringert Emissionen, da die meisten bei Start und Landung ausgestoßen werden. Von Delhi aus kann man zum Beispiel täglich mit dem Satyagrah-Express in den Grenzort Raxaul fahren, und von Birgunj auf nepalischer Seite mit dem Bus nach Kathmandu. Die Zugfahrt – im Schlafwagen – dauert 24 Stunden. Die Busfahrt in Nepal einen Tag.