Der Not gehorchend, suchten sie
ein Überleben in der Stadt,
den Rücken kehrend dem heimatlichen Dorf,
dem Gut der Väter. Vergangenheit
die vertraute Nähe der Erde, die Streiterei der Mitpächter,
jene Welt der Balladen um Bir Hanifa,
die im Mondlicht schimmernde Jungfrau Shonabhan.
Wie Ameisen, die der Honig anlockt,
bauten sie hier sich ihr Nest.
Wer zählte da, wessen Sohn und wessen Enkel,
als sie sich in Züge und Busse drängten,
auf Lastwagen und auf Schiffe
oder auf sich lang hinwindendem Weg
zu Fuß gingen, im Nacken
die Pranke der Hungersnot,
im Magen das unerbittliche Nagen des Hungers.
Fliehend vor der Willkür von Missernten,
von der räuberischen Flut, die ihr Nest wegwusch,
angespült wie entwurzelte Bergpflanzen,
erblickten sie mit aufgerissenen Augen
wie eine tolle Geschichte die Stadt.
Glänzende Lichtgirlanden, auf dem Gehweg
ein Schwarm von Feen, voll erblüht,
die den hellen Abend betören, in ihren Füßen
eines Liedes vibrierenden Takt.
Dampf, Luft, Wasser, ja, des Himmels unbändige Blitze
sind voll Demut bereit zu dienen.
Autos eilen wie Pferde dahin,
Wasser fließt aus dem Hahn,
und dem Ventilator entrieselt die Luft.
Wie Trauben des Weins hängt
vom Himmel das Glück.
Herrlich ist sie, die Stadt!
Sie, die ihr Dorf verloren,
kommen als mutterlose Kinder,
siedeln sich an auf freien Plätzen
am untersten Ende der Zivilisation.
In gemeinsamer Not
binden sie ihre Herzen zusammen und bauen
aus Brettern und Bambus ein wackliges neues Zuhaus.
Einer schleppt Lasten, Rikschas zieht ein anderer,
der trägt Bausteine zu, jener fegt das Büro.
Der besorgt das, verkauft jenes; ein anderer
hält mit dem Reparieren von Schirmen sich über Wasser
oder geht, mit gewaltigen Schlüsselringen
klappernd, von Haus zu Haus.
Andere stehlen im Dunkel der Nacht,
machen ihr Geld mit Würfeltricks,
fangen als Taschendiebe ihr Glück oder lassen
Huren laufen an schwarzen Abenden.
Frauen und Töchter gehn in die Häuser,
kochen in Junggesellenheimen. Die Herrchen darin
lernen ganz beiläufig
die süße Lektion der prallen Liebe.
Da ist ein Strenggläubiger, der
über alldem drohendes Unheil sieht,
früh und spät eifert, mit zorniger Stimme
unsinnige Warnungen ausstößt.
In zeterndem Singsang
tönt die ganze Nacht bis zum Morgen
unablässig die Stimme der Religion,
durch nichts zum Schweigen zu bringen. Und dennoch
wie ein Fluss bei Flut
schwillt auch der Strom der Sünden.
Oft bricht Gewalt aus zwischen denen aus
Chittagong, Noakhali, Barisal oder Faridpur,
Beschwichtigungen helfen da wenig.
Kein Wunder dann, dass plötzlich
welche zu Tode kommen.
So ist er, der tägliche Lebenskampf
des Dörflers in seiner ersehnten Stadt.
Hier lebt man traumlos, und doch
bleibt da ein Rest der Träume, dennoch
erblüht, wie eine schimmernde Blase
aus der Tiefe der Seele aufsteigend
die Blume der unendlichen Sehnsucht des Lebens.
Auch im Slum erzittert Musik,
schwirren die Leuchtkäfer der Liebe,
fällt durch die zerrissene Decke hindurch
eines Sternes Flimmern
als Traum auf das Gewebe des Tiefschlafs herab.
Die Hütten aus knotigem Bambus, Taubenschläge,
sammeln, wie Waben den Honig, Kindergeplapper
und das Summen von Frauenstimmen. Freud und Leid,
Lachen und Weinen jagen sich spielend.
Tausend Klagen zum Trotz
regt sich das häusliche Leben.
Doch im ganzen Land Hungersnot, überall
der Schakal Teuerung. Die Preise
sind aus den Fugen und Leben und Tod
aus dem Takt geraten.
Mit schneidender Stimme trägt der Wind
des blutigen Zeitalters Klage ans Ohr. Immer dichter
legt sich das erstickende Tuch der Hoffnungslosigkeit
über die Augen der Menschen im Slum.
Leben und Tod ohne Sinn; da
rüttelt manchmal
das zügellose, willkürliche Leben
unvermittelt an den Herzen
all jener Heimatlosen. Die Strömung reißt
zahllose Menschen mit sich, spült sie nach vorn.
Voll Zorn recken sie ihre Hälse, jubeln
den Führern zu: „Heil Dir,
Vater der Gerechtigkeit, Mutter der Nation!“
Doch ihr lebendiger, leuchtender Traum
verlöscht sinnlos im Leeren.
Von ihren Feinden getäuscht, missbrauchen sie ihren Glauben,
zerreißen falschen Göttern zum Opfer
ihres Herzens helle Blüte. Wieder zu Hause
umarmen sie lustlos ihre Frauen.
Wie sollen auch all diese Menschen,
heimatlos wie treibender Tang, Halme
im reißenden Strom des Lebens,
aller menschlichen Bindungen bar,
für sich ein Stück Grün in der Wüste,
ein schattenkühles Zuhause finden?
„Zuhause“ – das ist nur mehr
die Erinnerung an ein vergangenes Paradies,
die Hecke aus Bananenstauden,
der schräge Schatten der Kokospalmen,
der Zauber der vom Frühling geweckten
zartfrischen Blätter im Mangohain,
des Himmels Spiegelbild
im entzückten Krähenauge des Sees,
der gewundene Flusslauf, das Muhen der Kälber,
im Spätherbst das Wogen des goldfarbenen Reisfelds.
In der schweigenden Erde
schlafen ruhvoll die Seelen der Ahnen. Ihre schlichten Gräber
hüten einen Perlenschatz.
Heimatlos sind sie, und doch
brennt die Sehnsucht nach einem Zuhause
beständig in ihren Herzen. Im Traum
hören sie die Stimme der Väter,
das Grollen der Gewitterwolken, flimmert vor ihren Augen
der behende Fluss, in ihren Nerven haftet
der Duft von frisch geerntetem Reis, ihre Herzen
bewahren die vom Winde bewegte Weite des Feldes,
in ihrem Pulsschlag
trommelt der Regen.
Was sie aus Bambus und Holz in der Stadt gezimmert,
ist Hohn auf ein Haus, bebend im Wind;
der wildhaarige Baisakh-Sturm wirbelt es stückweis umher;
in den langen Nächten des Magh
schlägt der Bär Kälte seine Krallen ins Fleisch.
Schwer wird es den Flüchtlingen aus dem Dorf,
den Ort Zuhause zu nennen,
der sie so vor aller Augen entblößt.
Aber das Unheil braut sich zusammen. Eines Tags
reißt es den Slum jäh aus seiner Ruhe. Von oben
wurde dringlich und unabwendbar befunden:
„Weg mit diesem armseligen Haufen Dreck! Die Stadt
soll sorgenfrei sein, ihre Schönheit
wachsen wie der zunehmende Mond.
Wir haben geheime Nachricht, dass all die Hausierer,
Tagelöhner und wackeren Bettler des Slums,
sobald der Augenblick günstig,
die Stadt in die Luft sprengen wollen. Sie planen,
den feurigen Donner vom blauen Himmel zu holen,
mit schrecklichem Fluch zu belegen die Stadt.
Im Namen der goldenen Ernte wollen sie
den Tanz der Zerstörung beginnen,
sich rächen für den Verlust ihres Dorfes,
Ströme von Blut vergießen, bis sich der Gehweg rot färbt,
wie eine zornige Flutwelle in rasendem Aufprall
abreißen die empfindliche Hülle unserer Kultur.
In allen Vierteln proben sie schon den Aufstand. Schon
entwerfen sie die letzten Details des Plans, schon
zerren sie über die Morgenröte pechschwarzes Dunkel.
Sie wagen es, das Reis der unsterblichen Hoffnung
in ihre törichten Herzen zu pflanzen.
Die Lämmer werden frech und gebrauchen plötzlich
Klauen und Zähne. Nicht lang, und sie werden,
zornigen Löwen gleich, ein gewaltiges Brüllen anstimmen.“
Überall heimliche Angst. Der Wind
verbreitet erregt das schlimme Gerücht.
War dies Geräusch nicht schon
die den Felsen spaltende Explosion? Wandelt sich schon
das unterdrückte Weinen der Erde
zum mächtigen Lied des Lebens?
In der brennenden Brust
hämmert wie eine Kriegstrommel das Herz.
Kaum ist die Nachricht heraus, da kommen schon Bulldozer
und zeichnen ein tiefes Mal in den Leib der Erde.
Gereizten Nashörnern gleich,
wie der aus dem Schlaf aufgestörte Dämon Kumbhakarna,
attackieren sie Hütten, Nester der Wärme,
begraben sie unter der Last ihrer Macht,
zerquetschen die Hütten der Heimatlosen.
Schwarze, nackte Kinder aus Haut und Knochen
verfolgen mit schwarzem Blick
die Walzen der Todesmaschinen
und sehen neugierig, mit staunenden Augen
ein neues, fremdes Gesicht des Menschen.
Gleich verängstigten Vögeln stehen die Frauen, erstarrt,
nicht wissend, wann ihre Tränen versiegten.
Die Alten, ein Murmeln zwischen den Lippen, unfähig
abzuwenden das Schicksal. Mit gesenktem Kopf
schlucken die Jungen schuldbewusst, regungslos
den Schmerz wie Ziegen,
die man lebendigen Leibes häutet. Der Vetter des Slums,
der unverschämte Köter,
lässt seinen frischen Knochen fallen und stimmt ein Geheul an.
Vor großem Schmerz
ist der Shali-Vogel verstummt. Der starke Shimul-Baum
breitet schweigend seinen weiten Schatten aus, seine
rubinroten Blüten rieseln wie geronnene Tränen herab.
Über Haufen von Decken und Kissen,
Töpfen, Hausrat, Vogelkäfigen, Eimern, Laternen und Lampen
kreist am Himmel still die Ringeltaube.
Die mit geschwollenem Euter umherirrende Ziegenmutter
schreit ihr Mitleid mit den Menschen heraus.
Wohin gehn die Vertriebenen, Vögel, deren Nester man zerstörte?
Welche Worte schreiben
ihre zitternden Füße auf den steinernen Weg?
In den aufgewühlten Herzen
zucken Blitze. Mit nie geahntem Zorn
bricht der Schrei derer, denen man alles genommen,
der ihre Glieder durchglühende Strahl ihrer Worte
in das Dunkel, das sie umringt:
Du gnadenlose, hochmütige Stadt,
Spielfeld der Macht! O ja, wir verfluchen dich;
Büßen sollst du den Betrug an uns Armen!
Denn ins Dorf gehen wir nicht zurück. Kehrt auch ein Kind
zurück in den Mutterleib? Treten wird man uns, zertreten,
unsere Knochen zermahlen. Doch
wie giftige Hornissen werden wir
die Nacht im Verborgenen harren.
Sobald die Dämmerung anbricht,
kommen wir hervor wie Geschwader von Bombern.
Stadt, arrogante, fühllose Stadt, über dich
werden wir eines Tages aussprechen einen schrecklichen Fluch,
rächen werden wir den Verlust unseres Dorfes.
Im Namen der goldenen Ernte wollen wir
den Tanz der Zerstörung beginnen,
Ströme von Blut vergießen, bis sich der Gehweg rot färbt,
wie eine zornige Flutwelle in rasendem Aufprall
abreißen die blässliche Hülle deiner Kultur.
Anmerkungen:
Bir Hanifa: der „Held“ Hanifa, Gestalt der bengalischen Balladenliteratur, der Sage nach ein Sohn des Propheten Mohammed
Sonabhan: ebenfalls Heldin einer dieser balladesken Erzählungen
Baishakh: erster Monat des bengalischen Jahres, von Mitte April bis Mitte Mai; Frühlingsmonat, der oft heftige Stürme bringt
Magh: zehnter Monat des bengalischen Jahres; von Mitte Januar bis Mitte Februar; Wintermonat
Kumbhakarna: Dämon aus dem altindischen Epos „Ramayana“

Ahmed Sofa wurde am 30. Juni 1943 in Gachbaria im Distrikt Chittagong geboren und starb am 28. Juli 2001 in Dhaka. Er schrieb Romane, Gedichte, Theaterstücke, übersetzte Goethes „Faust“ ins Bengalische, war Kolumnist mehrerer Tageszeitungen, Philosoph und stets engagiert für die Rechte der Benachteiligten.
Barbara DasGupta hat „Ein Slum wird abgerissen“ aus dem Bengalischen ins Deutsche übertragen. Die Übersetzung erschien, unter der Redaktion von Tobias Schüth, erstmals in der Ausgabe 2/1993 der Zeitschrift NETZ. Eine weitere Veröffentlichung erfolgte 2006 im Band „Der fremde Vogel „.

Der fremde Vogel
Erzählungen und Gedichte aus Bangladesch Herausgegeben von Barbara DasGupta und Peter Dietzel
124 Seiten
Originalsprache: Bengalisch
Übersetzungen von Barbara DasGupta, Carmen Brandt, Alokeranjan Dasgupta, Hans Harder, Gabi Jaeschke, Lothar Lutze
Draupadi Verlag Heidelberg
ISBN: 3-937603-13-1
Erscheinungsjahr 2006
Die Auflage ist vergriffen, einzelne Neuexemplare sind für 9,80 Euro zzgl. Versand bei Peter Dietzel erhältlich, ebenso antiquarische Exemplare.